Eigen-Sinn

Ein Gänsegeier namens Mucki

Im Südosten der Steiermark, auf einem erloschenen Vulkan, in den Mauern einer unbezwingbaren Burg, lebt ein Gänsegeier namens Mucki. Blöder Name für einen Geier, wirst du sagen - aber er heißt wirklich so, und er lebt in der Greifvogelwarte der Riegersburg.

Mucki ist ein unternehmungslustiger Bursche. Schon als Bub liebte er lustige Streiche und vor allem: unterhaltsame Ausflüge. Damenhandtaschen sind seine große Liebe, da könnte nämlich was für ihn drin sein. Diese Liebe hat er auch nicht verloren, als er erwachsen wurde, was mit der Futtertasche des Falkners zusammenhängt.

Aber wo gibt es schon unbewachte Damenhandtaschen? Mucki weiß, wo. Deshalb fliegt er im Sommer zur Zeit der Touristensaison riesig gern hinunter in den Ort Riegersburg. Im Gastgarten eines Gasthofes gibt es jede Menge Touristinnen mit verlockenden Handtaschen. So landet er gewöhnlich mitten auf einem Tisch: Teller fliegen, Leute springen, Frauen kreischen und die Handtaschen sind herren- nein, damenlos.

Der herrliche Aufruhr! Nur leider, leider: in den Handtaschen ist einfach nichts Gescheites zu finden, sie sind überhaupt nicht geierfreundlich bestückt. So wendet man sich nach der fruchtlosen Übung des Damenhandtaschenzerfetzens enttäuscht ab. Und in diesem Augenblick erkennt man das Problem: Mucki kann nicht zurückfliegen, denn Geier können nicht auffliegen, sie brauchen eine Warte mit der entsprechenden Thermik. Mucki ging anfangs auch brav zu Fuß den ganzen, langen, steilen Weg hinauf nach Hause.

Heute läßt er das Taxi rufen. Er weiß nämlich genau, daß der Wirt bei seiner Landung schon ans Telefon saust, um die Greifvogelwarte anzurufen. Kurz darauf erscheinen Muckis Leute, verfrachten ihn ins Auto und bringen ihn zurück in sein Heim. Und machen die Versicherungsmeldung.

Auch die Gendarmerie von Riegersburg weiß über ihn bestens Bescheid - und ist vorsichtig geworden. Denn eines Tages entschloß sich Mucki, nicht im Gasthof auf das Taxi zu warten, sondern setzte sich mitten auf die Straßenkreuzung, ganz wie ein Verkehrspolizist. Der Verkehr ruhte nun, was im Hochsommer in der Touristensaison einen nicht unbeträchtlichen Stau erzeugt.

Die Gendarmen kamen im Dienstwagen, mit Folgetonhorn und Warnlicht, in der Hoffnung, den Kerl damit zu verscheuchen. Ha, das war was für Mucki! Er hopste sofort auf das Gendarmerieauto und machte sich über die Warnleuchte her.

Mucki leistete ganze Arbeit: die Versicherung kam nicht nur für kaputte Damenhandtaschen und für eine Warnleuchte, sondern auch für diverse andere, ehemals bewegliche Autoteile auf ... Seither überläßt auch die Gendarmerie den Abholdienst den jungen Leuten der Greifvogelwarte!

Mucki aber blinzelt vergnügt in die Gegend, verkürzt sich die Zeit mit netten kleinen Fehden mit dem Seeadler, gibt bei den Vorführungen der Vogelwarte für die Touristen sein Bestes und wartet auf neue Gelegenheiten, seine Überlegenheit zu beweisen. Derzeit hat er es auf Schuhbänder abgesehen. Sehr verehrtes Publikum: ziehen Sie die Beine an und verbergen Sie ihre Schuhbänder!

Ach ja: er?

Nach ein paar Jahren mußten die Vogelwarte - mit ziemlich erschüttertem Selbstbewußtsein - bekanntgeben: Mucki ist eine Gänsegeier-Dame, auch wenn sie sich nicht wirklich damenhaft benimmt. Halt gänsegeierisch, aber immerhin weiblich.

Also, lieber Gast, versäume nicht, auch die Greifvogelschau auf der Riegersburg zu genießen, wenn du zu uns in die Steiermark kommst! Und hüte deine Schuhbänder 😀